DFB-JOURNAL 02|2024
ERINNERUNGEN
HELDEN WIE WIR
Dreimal wurde Deutschland Europameister, die Turniere in Belgien 1972, Italien 1980 und England 1996 gehören zu den Höhepunkten der deutschen Fußball-Geschichte. Helden wurden geboren, Ungeheuer trieben ihr Wesen, Geister spukten. Drei Hauptdarsteller erinnern sich an große Tage und große Taten.
EM 1972
Sepp Maier
Wenn ich auf die Europameisterschaft 1972 angesprochen werde, muss ich als Erstes an unser Spiel in Wembley denken. Es gehörte nicht zur Endrunde, sondern war das Viertelfinale, das in Hin-und Rückspiel ausgetragen wurde und dem Turnier vorgeschaltet war. An jenem 29. April flogen wir mit sehr gemischten Gefühlen nach England. Wir Bayern-Spieler, die die Mehrheit des Teams stellten, waren in schlechter Form und hatten im April in Duisburg, Köln und Glasgow verloren. Dazu beklagten wir zahlreiche Verletzte, unter anderem Berti Vogts und Wolfgang Overath, und man muss sagen: Wir haben mit einer regelrechten Rumpfmannschaft gespielt, auch wenn die jungen Leute wie „Katsche“ Schwarzenbeck, Paul Breitner und Uli Hoeneß ja dann noch eine richtig große Karriere gemacht haben.
Ich war auch nicht ganz auf der Höhe und hatte eine Schleimbeutelentzündung am Ellenbogen, der Arm wurde über Nacht plötzlich doppelt so dick. Unser Masseur Erich Deuser hat mir einen Schaumgummiverband gelegt, Teamarzt Hanns Schoberth gab mir Antibiotika. Nur die beiden und mein Vertreter Wolfgang Kleff waren eingeweiht, dem Langen, also Bundestrainer Helmut Schön, haben wir lieber nichts gesagt. Der hat sich schon genug Sorgen gemacht.
Trotz allem: Wir haben, vor allem wegen eines überragenden Günter Netzer, der in der Nationalelf eigentlich nur 1972 so richtig gut gespielt hat, 3:1 gewonnen. Als erste deutsche Mannschaft in England. Das war der Schlüsselmoment für unseren Erfolg bei der Europameisterschaft – und auch danach. Die Kritiken waren euphorisch, was man aus der damaligen Zeit heraus verstehen muss. Als ich mir das Spiel später noch mal angesehen habe, habe ich gestaunt: Das war ja alles wie in Zeitlupe. Mir wurde erst da wieder bewusst, wie knapp es eigentlich war und wie spät die Tore zum 2:1 durch Günters Elfmeter und zum 3:1 durch Gerd Müller fielen. In der Aufzeichnung war übrigens nicht zu sehen, dass der Lange Netzers Tor im Liegen sah und alle viere von sich streckte. Schön war nämlich vor dem Elfmeter aufgestanden und hatte was reingebrüllt, ging dann rückwärts zur Bank, ohne zu gucken und setzte sich neben sie – also plumpste er zu Boden. Nur durch den Torschrei erfuhr er, dass Günter getroffen hatte. Was haben wir gelacht! Nach dem 0:0 im Berliner Rückspiel kamen wir dann zur Endrunde nach Belgien.
EIN LUSTIGES ZIMMER
Es war damals noch alles anders als heute. Jetzt nehmen 24 Mannschaften teil, damals waren es nur vier. Die Endrunde fand noch vor Abschluss der Bundesligasaison zwischen dem 32. und 33. Spieltag statt, was ich im Rückblick kaum fassen kann. Das ganze Turnier war binnen vier Tagen erledigt, und ich behaupte, dass die Qualifikation schwieriger war als die Endrunde. Aber wir haben das so hingenommen. Als Spieler ist dir der Modus doch wurscht – du willst einfach Europameister werden. Unser Kaderkern bestand aus den Blöcken des FC Bayern und von Borussia Mönchengladbach. In der Liga haben wir uns ganz schön Feuer gegeben, aber in der Nationalmannschaft haben wir zusammengehalten, unser gemeinsames Ziel hat uns zusammengeschweißt. Das galt auch für die Torhüter. Ich lag mit Borussias Wolfgang Kleff, der Otto Waalkes so ähnlich sah und auch ein bisschen war, auf einem Zimmer. Es war sicher das Lustigste in Brüssel – auch wenn mir kein Streich mehr in Erinnerung geblieben ist.
Heute undenkbar, dass auch unsere Gegner im selben Hotel waren: in Antwerpen die Belgier, in Brüssel die Auswahl der Sowjetunion. Von unseren Gegnern wussten wir nicht allzu viel, immerhin hatten wir gegen die Sowjets kurz vor dem Turnier ein Testspiel gehabt und mit 4:1 gewonnen. Co-Trainer Jupp Derwall hat unsere Gegner beobachtet und ein paar Sätze gesagt, aber wir haben keine Videos geschaut. Es war noch nicht die Zeit dafür, wir sind einfach raus und in die Partien wie in ein Pokalspiel gegangen. Es hieß hopp oder top, wir haben uns gesagt: Wir spielen unser Spiel. So selbstbewusst waren wir – auch wegen der beiden Weltmeisterschaften zuvor in England 1966 und Mexiko 1970, wo wir Zweiter und Dritter geworden waren. Uns allen war klar, welch große Chance wir mit unserer starken Mannschaft hatten. Die wollten wir uns unter keinen Umständen nehmen lassen. Von niemandem.
IMMER WIEDER MÜLLER
Gegen die Belgier im Halbfinale war es schwerer, sie hatten im Viertelfinale die starken Italiener, immerhin amtierender Vizeweltmeister, aus dem Wettbewerb geworfen und eine sehr starke Mannschaft. Zudem kickten wir in Antwerpen auf einem ziemlichen Kartoffelacker, aber auf den Gerd war wieder mal Verlass – er hat beide Tore geschossen. Der Katsche hat gegen den damals überragenden Mittelstürmer Paul van Himst sehr gut gespielt, mehr als ein Tor ist den Belgiern nicht mehr gelungen. Endstand 2:1 – das war das knappste Spiel. Das Finale gegen die Sowjets war dann einseitig, ich hatte kaum etwas zu tun. Mir war fast langweilig, aber als Torwart musst du ja trotzdem immer auf der Hut sein. Wir haben 3:0 gewonnen, wieder traf der Gerd zweimal und das vorentscheidende 2:0 hat „Hacki“ Wimmer erzielt. Er, der Katsche und einige andere standen nie so im Blickpunkt. Der Glanz fiel eben auf den Franz, den Günter und den Gerd, aber es ist im Fußball wichtig, dass du Spieler hast, die mitziehen und ihre Rolle annehmen. Hast du die nicht, kannst du kein Turnier gewinnen.
Wir hatten auch schon mal Stinkstiefel drin, aber nicht in dieser Mannschaft. Man hat später immer wieder gesagt und geschrieben, es sei eine Jahrhundertelf gewesen. Ich halte es für falsch, solche Vergleiche zu ziehen, es ist fast unmöglich. Weil sich das Spiel, besonders in puncto Athletik und Dynamik, Technik und Taktik, permanent ändert. Wir waren eine Supermannschaft, jedenfalls die beste ihrer Zeit – darauf können wir uns einigen. Nicht umsonst wurden wir ja mit fast derselben Aufstellung 1974 Weltmeister. Leider war es etwas schwierig, den EM-Sieg richtig zu genießen. Unsere Fans standen in den letzten Minuten zu Hunderten am Spielfeldrand, und damit es keinen Abbruch gibt, habe ich immer mal einen hinter die Linie gescheucht, es war ja auch schon frühzeitig alles entschieden. Es war im Grunde irregulär, zum Glück blieb es friedlich. Nur stürmten mit Abpfiff alle auf den Platz und wir konnten uns gar nicht richtig gemeinsam freuen. Jeder Spieler hing in irgendeiner Fantraube fest, alle woanders auf dem Platz. Wir hatten nicht wirklich etwas von unserem Titel in diesem Moment, das hat mich etwas verärgert, wenn ich ehrlich bin. Auch wenn ich natürlich die Freude der Leute verstehen konnte. Aber ich hätte das Ganze gerne mehr mit meinen Mitspielern ausgekostet.
Später hat man uns den Pokal in die Hände gedrückt und schnell ein Foto gemacht – umgeben von einem Haufen von Fans. Es gab auch kein Bankett und in der Heimat keinen Empfang. Die Europameisterschaft war damals noch keine große Nummer, gar nicht zu vergleichen mit der Bedeutung von heute. Aber gefreut haben wir uns trotzdem. Auf der Fahrt zum Flughafen haben wir im Bus gesungen und gelacht wie kleine Kinder. So feiert man nur unerwartete oder besonders schöne Siege und Titel. Unerwartet war dieser nicht, aber er war für unsere Generation der erste. Es war der Anfang einer goldenen Ära des deutschen Fußballs.
EM 1980
Horst Hrubesch
Auf einmal musste ich an Klaus Fischer denken. Wir standen auf dem Rasen im Olympiastadion in Rom. Gleich würde es die Stufen hinauf zur Siegerehrung gehen, gleich würden wir den EM-Pokal in den Händen halten, gleich würde ich mich wundern, wie schwer dieser Pokal ist. Erschöpft, mit leerem Tank stand ich auf dem Rasen. „Das eine Tor für ,Fischchen‘ habe ich jetzt auch gemacht“, ich weiß nicht mehr, ob ich es gesagt, gemurmelt oder nur gedacht habe. Manfred Kaltz und Felix Magath standen in meiner Nähe, vielleicht könnten diese beiden die Frage beantworten.
,Fischchen‘, Klaus Fischer – meine Erzählung von der EM ‘80 geht nicht ohne ihn. Gemeinsam mit und nach Gerd Müller hatte er die Szene in Deutschland über Jahre geprägt, im deutschen Sturm war er die Nummer eins. Seine Verletzung kurz vor Beginn der EM war auch für mich nichts als ein Schock. Im Spiel gegen Uerdingen hatte er sich das Schienbein gebrochen; die EM, das war sofort klar, würde ohne ihn stattfinden. Mir tat es wahnsinnig leid für ihn, wir hatten immer ein gutes Verhältnis, ich mochte und mag ihn. Und jetzt stand ich in Rom, als Europameister mit zwei Toren im Finale, und er war zu Hause. „Eins für ihn, eins für mich“, solche Gedanken schossen mir durch den Kopf.
Wenn ich mich an die EM in Italien erinnere, dann ist das erste Bild, das ich sehe, eine verschlossene Kabinentür. Auch diese Sequenz spielt nach dem Finale. Die Siegerehrung war Geschichte, ich hatte einen Interviewmarathon absolviert und alle Fragen der Journalisten beantwortet. Nun wollte ich zurück zur Kabine, duschen, mit der Mannschaft feiern. Und was musste ich feststellen? Die Kabine war verschlossen, das Team schon weg. Ich bin dann von der Polizei zum Hotel gebracht worden, kam mit gehöriger Verspätung dort an. Der Bundeskanzler hatte schon gesprochen, alle Reden waren gehalten worden. Und ich stand da in kurzer Hose und wusste nicht so recht, wohin mit mir. Ich bin erst mal auf mein Zimmer, habe geduscht und mich umgezogen. Als ich wieder unten war, war der große Saal fast leer. Caspar Memering saß noch mit ein paar anderen Spielern und den Frauen an einem Tisch, zu dieser Gruppe habe ich mich gesellt. Wir haben einige Gläser geleert, in denen sich Cola und andere Flüssigkeiten gemischt hatten. Bis sechs Uhr morgens haben wir auf diese Weise gefeiert – dann war die EM vorbei.
MATTHÄUS´ DEBÜT
Begonnen hatte das Turnier für uns mit einem 1:0-Sieg über die Tschechoslowakei. Zu meinem ersten Einsatz kam ich im zweiten Gruppenspiel gegen die Niederlande. Es war der große Tag von Klaus Allofs, dem drei Treffer gelangen. Bernd Schuster war überragend, in diesem Spiel noch mehr als sonst. Und Lothar Matthäus setzte seine ersten Schritte auf dem Weg, Rekord-Nationalspieler zu werden. Wir haben stark gespielt, 3:0 geführt, es dann aber unnötig spannend gemacht. Nach einem unberechtigten Elfmeter stand es nur noch 3:1, kurz vor Ende ist dann das 3:2 gefallen – und wir mussten noch einmal zittern.
Wenn ich darüber nachdenke, was unsere Mannschaft damals auszeichnete, dann ist es in erster Linie die gute Mischung im Team. Es gab erfahrene Spieler wie Rainer Bonhof und Bernd Cullmann, dazu Ennatz Dietz, unseren Kapitän. Er war eine echte Führungsfigur, ein Typ, einer, der sich nicht versteckt hat und der vorangegangen ist. Dann Spieler wie Karl-Heinz Rummenigge, die Försters, Klaus Allofs, Uli Stielike, Felix Magath, Manfred Kaltz, Hansi Müller, keine Babys mehr, auch noch keine alten Hasen, am Beginn oder im Zenit großer Karrieren. Schließlich mit Matthäus und Schuster Spieler mit unfassbaren Begabungen, denen die Zukunft gehören würde. Die Kaderstruktur hat einfach gepasst, vom Alter her, aber auch von den Rollen. Wir hatten Arbeiter, Strategen und Künstler, und vorne mit Rummenigge, Allofs und mir auch Killer. Es gab keine Blockbildung, keine Grüppchen, keine Eifersucht. All das hat dazu geführt, dass diese Mannschaft als Team überragend funktioniert hat.
Nach den Siegen zum Auftakt hatte das Gruppenfinale nur noch untergeordnete Bedeutung. Durch das 1:1 zwischen Griechenland und den Niederlanden standen wir schon vor unserer Partie gegen die Griechen als Gruppenerster und damit als Finalist fest. Das kann man sagen: Es gab schon aufregendere Spiele als die 90 Minuten gegen Griechenland; am Ende stand ein torloses Remis, das für mich vor allem bedeutete, dass ich meinen ersten Treffer für die Nationalmannschaft unverändert vor mir hatte. Jupp Derwall hat danach das Gespräch mit mir gesucht und mir gesagt, dass er nicht sicher sei, ob er mich im Finale von Beginn an spielen lassen würde. „Das ist Ihre Entscheidung, Trainer“, habe ich gesagt.
SCHLAG AUF SCHLAG
Ansprüche habe ich nicht gestellt, woher auch? Für mich ging alles Schlag auf Schlag. Erst mit 24 war ich in die Bundesliga gekommen, mit 27 Jahren bin ich zum HSV gewechselt, durfte dort mit Kevin Keegan spielen, wurde Deutscher Meister. Dann die EM-Nominierung, dann die Verletzung von Klaus Fischer, es ging so schnell, dass ein Verarbeiten ausgeschlossen war. Für mich ging es in Italien darum, in dieser Mannschaft anzukommen. Mein Vorteil war meine Mentalität, sie war unbrechbar, unkaputtbar. Ich war nicht gesegnet, meine große Gabe war, immer alles reinzuhauen, mehr als andere zu machen. In diesem Sinne habe ich mich damals auch gegenüber Derwall geäußert: „Wenn ich spiele, gebe ich alles, egal wann und egal, was und wer da kommt.“
Ich finde, dass Jupp Derwall bei der EM 1980 vieles richtig gemacht hat. An unserem Gespräch nach dem Griechenland-Spiel hat mich nicht der Inhalt gewundert, sondern das Gespräch an sich. Aus meinen Vereinen kannte ich es nicht, dass die Trainer die Spieler in ihre Überlegungen einbeziehen. Derwall hat es in diesem Fall gemacht, das hat mir imponiert. Wenn ich über die EM in Italien sage, dass die Mischung gestimmt hat, dann meine ich damit auch die Trainer. Auf der einen Seite Derwall, der den Spielern vertraut und sie an der langen Leine geführt hat, auf der anderen sein Assistent Erich Ribbeck, der sehr klar war in seinen Vorstellungen und kompromisslos in seinen Handlungen. Man muss aber auch sagen, dass die Mannschaft es den beiden leicht gemacht hat. Wir Spieler haben schnell gespürt, dass diese Gruppe zu Großem fähig ist. Die Alten haben gemerkt, dass die Jungen etwas können, die Jungen haben gemerkt, dass ihnen die Erfahrung der Alten hilft.
Zu meinen Geschichten aus Italien gehört der Besuch im Vatikan. Vor dem Griechenland-Spiel hatten wir Ausgang, gemeinsam mit Gerd Krall, einem Journalisten aus Hamburg, bin ich zum Petersdom gelaufen. Zufällig hielt Papst Johannes Paul II. gerade eine Messe zur Segnung der Gläubigen. Es war wie auf einem Pop-Konzert: jubelnde, johlende Massen, eine spezielle und beeindruckende Atmosphäre. Der Papst ist durch die Menschenmassen gelaufen, hat nach rechts und links gewunken. Wir hatten Blickkontakt, ich glaube, dass ich mir das nicht einbilde, und er hat zwei Finger in unsere Richtung gezeigt. Für Gerd Krall war das Zeichen eindeutig: Gegen Griechenland würde ich zwei Tore erzielen, das sei die Botschaft des Papstes gewesen. Nach dem Spiel habe ich dann zu Krall schmunzelnd gesagt: „Der Papst hat gelogen.“ Eine Fortsetzung dieser Geschichte gab es nach dem Endspiel, als Krall aufgeregt zu mir rannte und atemlos sagte: „Der Papst hat nicht gelogen, er hat das Finale gemeint.“
TOR MIT ANSAGE
Das Finale. Es ging gegen Belgien, und entgegen seinen Zweifeln gab Derwall mir die Möglichkeit, von Beginn an zu spielen. Endlich habe ich das Vertrauen auch mit Toren gerechtfertigt. Das 1:0 fiel früh, schon in der 10. Minute. Schuster hatte den Ball durchs Mittelfeld geführt und zu mir gepasst, ich habe ihn mir mit der Brust vorgelegt und kurz vor der Strafraumgrenze mit rechts abgezogen. Ein Aufsetzer, der unhaltbar in der rechten Ecke eingeschlagen ist. Bis zur 75. Minute sah es sehr gut für uns aus, dann erzielten die Belgier den Ausgleich, das Spiel drohte zu kippen. Je länger die Partie lief, desto müder wurden wir, und ich gebe zu: Wir hätten schlechte Karten gehabt, wäre das Spiel in die Verlängerung gegangen.
Ist es aber nicht. Unser Siegtreffer fiel in der 88. Minute, ein Tor mit Ansage. Ecke von der linken Seite von Rummenigge, die Variante war einstudiert: kurzer Pfosten, auf Höhe der Fünf-Meter-Linie. Ich wusste, dass der Ball dorthin kommen würde, im Training hatten wir es immer wieder geübt, und Kalle konnte das einfach. Beim Einlaufen habe ich gesehen, wie Pfaff die Linie verlässt und gespürt, dass ich vor ihm am Ball sein würde. Diesen Gedanken werde ich nie vergessen: „Ich muss ihn nur noch in die Mitte bringen, nur noch in die Mitte.“ Beide Pfosten waren besetzt, aber die Tormitte war verwaist. Und dann habe ich meinen Schädel hingehalten und der Ball ist in die Tormitte geflogen. Dann war Schluss – und wir waren Europameister.
EM 1996
Stefan Kuntz
Wenn ich an die EURO ‘96 zurückdenke, ist das erste Bild in meinem Kopf der Moment, in dem wir die Trophäe überreicht bekommen haben. So was brennt sich ein. Aber auf dem Weg zu diesem Moment gab es viele Geschichten. Im März 1996 hatten wir noch ein Freundschaftsspiel gegen Dänemark. Ich saß auf der Bank, wurde aber nicht eingewechselt. Ich spielte damals bei Beşiktaş Istanbul und hatte schon den Herbst meiner Fußballkarriere erreicht. Nach dem Spiel habe ich zu Trainer Berti Vogts gesagt: „Du, Berti, ich bin jetzt 33. Wenn ich bei der EM keine große Rolle mehr spiele, kannst du mir das ruhig so sagen. Dann brauche ich mir keine Hoffnungen zu machen.“ Er antwortete, dass die UEFA gerade noch kläre, ob die Regelung für Gelbe Karten aus der Qualifikation auch für das Turnier gelte. Er sagte: „Wenn der Klinsi im ersten Spiel gesperrt sein sollte, dann spielst du.“ Und so kam es schließlich auch – Klinsi war gesperrt und ich stand gegen Tschechien in der Startelf. So etwas hat mir in meiner Karriere immer sehr imponiert: Wenn ich wusste, dass ich mich auf jemanden verlassen konnte. So begann die EM für mich praktisch schon im März.
Unser Team war relativ alt, die Mannschaft verfügte also über Erfahrung. Für einige von uns war es die letzte große Chance auf einen internationalen Titel. Leider hatten wir Verletzungspech. Es ging damit los, dass sich Kapitän Jürgen Kohler im ersten Spiel nach 14 Minuten das Innenband riss. Auch Mario Basler musste früh verletzt abreisen. Und im Laufe der EM kamen weitere Verletzte hinzu. Dadurch wurde jeder Spieler im Kader wichtig, wir sind noch enger zusammengerückt und wurden zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Der Teamgeist war herausragend, passend zum Credo unseres Cheftrainers: „Der Star ist die Mannschaft“.
GUTE MISCHUNG
Generell finde ich, dass Berti Vogts bei der Zusammenstellung des Kaders damals vieles richtig gemacht hat. Zum Beispiel war mit Matthias Sammer ein Leader dabei, der die ganze Sache sehr professionell angegangen ist. Das hat uns gutgetan. Und dazu natürlich Klinsi, mit seiner lockeren und unbekümmerten Art. Bereits nach dem ersten Gruppenspiel durften unsere Frauen ins Teamquartier kommen, sollten aber abends wieder zurückfahren. Aber nachdem Berti die Frauen kennengelernt hatte, hat er gemerkt, dass sich ihre Anwesenheit positiv auf den Teamspirit auswirkte – für die nächsten Spiele hat er dann erlaubt, dass sie bis zum Frühstück am Tag darauf bleiben durften. Das hat für sehr viel Harmonie gesorgt. Die Vorrunde haben wir mehr oder weniger souverän gemeistert. Wobei man sicher sagen muss, dass wir im dritten Gruppenspiel gegen Italien etwas Glück hatten. Andy Köpke parierte da unter anderem einen Elfmeter und machte auch sonst ein Riesen-Spiel. Das 0:0 hatten wir ihm zu verdanken.
Das Viertelfinale gegen Kroatien war extrem ruppig. Da wurde ich vermutlich das erste Mal nicht eingewechselt, um Tore zu schießen, sondern weil ich zu den Spielern gehörte, die sich auf dem Platz wehren konnten. Ich kam zur zweiten Halbzeit rein, mein Gegenspieler war Slaven Bilić. Da waren zwei Situationen dabei, bei denen man heutzutage wohl Rot gezeigt hätte. Wir hatten eine Antwort auf diese körperbetonte Spielweise und gewannen 2:1, auch wenn es nicht das schönste Spiel war. Das gehörte eben dazu und es ist ja fast typisch für ein erfolgreiches Turnier, dass du mal jede Art von Spiel durchmachst. Egal, ob das Glück gegen Italien oder der Kampf gegen Kroatien – wenn du diese Hürden nimmst, wird das Selbstvertrauen immer größer.
Aber zurück zum Turnierverlauf. Ich steuerte auf mein Highlight-Spiel zu: das Halbfinale gegen England. Ich hatte vorher aus Erzählungen gehört, dass Wembley das absolute Nonplusultra im Fußball sein muss. Das Stadion, die Stimmung, der Rasen. Als wir dann am Tag vor dem Spiel zum Abschlusstraining im Wembley-Stadion ankamen, war ich ein bisschen enttäuscht. Den Kabinen hat man angesehen, dass sie schon einige Jahre auf dem Buckel hatten, der Rasen war „nur“ normal-gut. Vielleicht waren meine Erwartungen einfach zu hoch. Aber dann kamen der nächste Tag und das Spiel. Von den Kabinen ist man über eine kleine Erhöhung in Richtung Platz zum Aufwärmen gelaufen. Ab diesem Moment war alles anders. Ich glaube, ich habe mich in meinem Leben bis dahin noch nie 30 Minuten lang durchgehend mit Gänsehaut warmgemacht – hier schon. Beim Dehnen habe ich mich ein paar Mal richtig verloren in dieser unglaublichen Stimmung. Da kam das Gefühl in mir hoch: „Boah, heute ist ein ganz besonderer Tag.“
NUR NICHT VERSCHIESSEN
Zunächst sind wir in Rückstand geraten. Aber zum Glück habe ich schnell den Ausgleich erzielt. In der Verlängerung hat mir der Schiedsrichter das erste Golden Goal der Geschichte genommen, weil er bei meinem Treffer auf Foul entschieden hat. Wenn man sich die Szene heute nochmal anschaut, kommt man wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass es kein Foul war. Also ging es ins Elfmeterschießen. Ich wollte schlau sein und dachte mir, dass die Engländer es bisher noch nie bis zum fünften Elfmeter geschafft haben. Also habe ich, als Berti gefragt hat, wer schießt, gesagt, dass ich den fünften schieße. Weniger aus Überzeugung, sondern mehr in der Hoffnung, dass bis dahin alles entschieden ist. Tja, es kam, wie es kommen musste: England begann und verwandelte alle fünf Elfmeter. Ich musste also zum Punkt – der Weg dorthin wurde immer länger, und das Tor wurde immer kleiner.
Meine Rettung war der Gedanke daran, wie meine Kinder am nächsten Tag im Schulbus verspottet werden, wenn nun ausgerechnet ihr Vater dieses Spiel vergeigt. Das hat mich ein bisschen abgelenkt. Glücklicherweise habe ich getroffen. Gareth Southgate verschoss den nächsten Elfer, Andy Möller verwandelte für uns – und wir standen im Finale. Anschließend gab‘s natürlich einen riesigen Freudentanz gemeinsam mit den deutschen Fans, die auf der anderen Seite des Stadions waren. Wir mussten also vom Tor, auf das die Elfmeter geschossen wurden, einmal über den ganzen Platz zu unseren Fans laufen. Dabei sind große Teile des englischen Publikums aufgestanden und haben applaudiert.
NEBEN BORIS AUF DER LIEGE
Dieses Spiel war eigentlich auch als Team unser Höhepunkt. Aber jetzt hatten wir plötzlich etwas zu verlieren. Wir spielten wieder gegen die Tschechen, doch diesmal ging es um den Titel. Ich hatte eine Prellung aus dem Halbfinale mitgenommen und lag bei Dr. Müller-Wohlfahrt und den Physios auf der Behandlungsliege, plötzlich legte sich Boris Becker neben mich. Parallel zur EM lief Wimbledon, Boris hatte sich am Handgelenk verletzt und aufgeben müssen. Wir haben geredet und er hat uns viel Erfolg für das Endspiel gewünscht.
Das Finale kam, und unser Spiel war eher durchwachsen. Ich vergab eine gute Chance. In der zweiten Halbzeit bekamen wir einen Elfmeter gegen uns gepfiffen und lagen 0:1 hinten. Dann kam Olli Bierhoff rein, besorgte direkt den Ausgleich und in der Verlängerung sein zweites Tor, damit war er da, dieser surreale Golden-Goal-Moment. Du jubelst und überlegst sofort, wie lange noch zu spielen ist. Plötzlich fällt dir ein: „Ach, nee, das Ding ist ja durch. Wir sind Europameister.“ Danach gab es kein Halten mehr. Wir hatten eine großartige Feier. Boris war auch dabei und hat sich mehr als verdient gemacht, indem er sich in der Partynacht sehr liebevoll um die Getränke gekümmert hat. Die Songs der Neuen Deutschen Welle liefen rauf und runter.
AUFZEICHNUNG Udo Muras, Steffen Lüdeke, Karl Evers
FOTOS (1) imago/Sven Simon, (2) imago/Ferdi Hartung, (3) imago/Laci Perenyi