Super Torjäger I
JOSÉ LUIS CHILAVERT
Er sah sich als Torhüter aus der Zukunft und erzielte sogar einen Dreierpack. Oliver Kahn war vor allem genervt von ihm Florian Nussdorfer I- María Jesús Contreras T
„Aus dem Weg!", raunzte José Luis Chilavert seine Mitspieler an. „Ich hau das Ding rein!" Dabei lag „das Ding" noch in der eigenen Hälfte, gute 60 Meter vom gegnerischen Tor ent-fernt, und Chilavert hatte seinen Platz zwischen den Pfosten von Vélez Sarsfield eigentlich nur verlassen, um sich über ein Foulspiel zu beschweren. Doch als er sich dem Tatort näherte, bemerkte er, dass Germán Burgos, Torhüter von Gegner River Plate, gerade mit einem seiner Verteidiger schwatzte. Also be-schleunigte Chilavert seine Schritte, ließ sich auch von den Rufen seiner Mitspieler nicht aufhalten, gab stattdessen dem in der Schussbahn stehenden Schiedsrichter den freundlichen Hinweis, dass es jetzt besser wäre, sich zu ducken, und prügel-te den Ball in Richtung gegnerisches Tor. Nachdem „das Ding" zunächst steil in den Himmel von Buenos Aires stieg, senkte es sich plötzlich herab und schlug hinter Burgos ein. Vélez gewann mit 3:2 und wurde später Meister.
Nicht nur seine Mitspieler versuchten damals, Chilavert aufzuhalten. Auch die Fans bei Real Saragossa bekamen in den späten Achtzigern die Krise, wenn sie sahen, dass ihr Tor-wart plötzlich sein angestammtes Revier verließ, um einen Elfmeter oder einen Freistoß zu treten. Doch Chilavert sah die Sache pragmatisch: „Wenn man einen Torhüter mit einem guten Schuss im Team hat, sollte man davon auch Gebrauch machen." Zu Jugendzeiten hatte er als Mittelstürmer gespielt, ein Außenrist-Treffer des Peruaners Teófilo Cubillas bei der WM 1978 inspirierte ihn: „Als ich dieses Tor sah, beschloss ich, dass auch ich Freistöße schießen wollte." Also legte er Sonderschichten ein. Um die 100 Freistöße schoss er nach eigenen Angaben pro Trainingseinheit. Er selbst begriff sich in aller Bescheidenheit als „Prototyp des Torhüters des dritten Jahrtausends: Ich praktiziere das Zusammenspiel mit meinen Teamkollegen, das wirkliche Spiel zu elft."
Zum ersten Mal erfolgreich war er per Elfmeter in ei-nem WM-Qualifikationsspiel gegen Kolumbien im Jahr 1989. Im Laufe der Jahre kamen 61 weitere Treffer hinzu, 17 per Freistoß, zwei aus dem Spiel heraus, der Rest durch Elfmeter. Dreimal wurde Chilavert zum Welttorhüter ernannt, er ge-wann Meisterschaften in Paraguay, Argentinien und Uruguay, die Copa Libertadores und den Weltpokal. Er ist der einzige Torwart, dem jemals ein Dreierpack in einem Spiel gelang:
1999 versenkte er im Spiel gegen Ferro Carril Oeste gleich drei Elfmeter. Zwar löste ihn der Brasilianer Rogério Ceni 2006 als torgefährlichster Keeper aller Zeiten ab (131 Tore), doch in Sachen Exzentrik blieb Chilavert die Nummer eins. In den Neunzigern lief er mit dem Konterfei einer Bulldog-ge auf dem Trikot auf. Er prügelte sich mit Mitspielern und Gegnern, er schlug sogar Paraguays Präsidentschaftskandidat Lino Oviedo und spuckte Roberto Carlos ins Gesicht. Nach einem Besuch von Papst Johannes Paul II. in Paraguay kauf-te er sich das Papamobil. Weil er es konnte. Mit einem Mo-natsgehalt von 100 000 Dollar war Chilavert jahrelang der bestbezahlte Fußballer in Südamerika. Aufgrund seiner Tore gegen die großen Klubs aber auch einer der meistgehassten. Im September 1996, ein halbes Jahr nach seinem 60-Meter-Tor gegen River Plate, spielte er in der WM-Qualifikation mit Paraguay gegen Argentinien. Schon vor dem Spiel spuck-te er große Töne, dass er sein 33. Tor erzielen würde. Die Fans in Buenos Aires bewarfen ihn mit Orangen. Chilavert biss genüsslich in ein Exemplar- und traf erneut per Frei-stoß gegen Germán Burgos.
Große Klappe, viel dahinter. Das galt vor allem für den Chilavert der Neunzigerjahre. Im neuen Jahrtausend aller-dings wirkte es bisweilen, als hätte der Torwart den recht-zeitigen Absprung verpasst. Vor dem Achtelfinale der WM 2002 gegen Deutschland tönte er: „Ich haue Oliver Kahn einen rein und wir kommen bis ins Finale." Zwar trat Chilavert in der 72. Minute tatsächlich zu einem seiner ge-fürchteten Freistöße an, aber der Ball verfehlte sein Ziel weit. Sebastian Kehl sagte nach dem Spiel: „Wir hätten die gan-ze Angst nicht haben müssen." Chilaverts Gegenüber Oliver Kahn warf seinem Kollegen für dessen Freistoßzeremonie gar „brutale Selbstdarstellung" vor.
Chilavert selbst wähnte sich immer im Kampf für die Gerechtigkeit. Bei der Copa América 1999 im eigenen Land weigerte er sich, für Paraguay aufzulaufen, weil er der Auf-fassung war, der Staat solle das Geld lieber in Bildung und soziale Einrichtungen stecken. Schon während seiner aktiven Karriere kokettierte er wiederholt mit einer Kandidatur für das Amt des paraguayischen Präsidenten. Als ihn ein Spiegel-Reporter jedoch einmal darauf ansprach, winkte er ab: „Das Gerücht haben doch Journalisten in die Welt gesetzt. Das wurde damals völlig aus dem Kontext gerissen." So war es mit José Luis Chilavert: Was er lostrat, war nur schwer einzufan-gen - ob Freistöße oder wilde Geschichten.
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