Wir sind keine Maschine mehr. ” sondern maximal ein Maschinchen
Die Analyse bezieht sich auf grundsätzliche Defizite im deutschen Fußball. MATTHIAS SAMMER (57) hat klare Botschaften, er spricht über Mängel im Bewusstsein, in der Physis, im Zweikampf und über zu viel Schönreden im deutschen Fußball. Eine Fundamentalkritik.
ammer kommt sportlich-lässig im Trainings- S anzue Er hat einigeprogrammatische Ge danken und Einsichten zum Fußball mitgebracht, die er in 2:20 Stunden an einem Rundtisch in der hintersten Ecke eines Biergartens in Straßlach bei München darlegt. Höchst konzentriert, höchst engagiert. Voller Leidenschaft. Irgendwann sagt er: „Da brodelt es in mir."
Herr Sammer, der FC Bayern und Dortmund schieden im Viertelfinale der Klub-WM und der Champions League 2024/25 aus wie auch Frankfurt in der Europa League. Für die deutsche Nationalelf war bei der Heim-Europameisterschaft 2024 ebenfalls im Viertelfinale Schluss. Reicht es für den deutschen Fußball nicht mehr für ein Halbfinale?
Grundsätzlich ist diese Bilanz in Ordnung. Aber wir sollten auf der Grundlage unserer Ansprüche schon noch umfassend sachlich-kritisch analysieren und hinterfragen, warum es nichtweiter ging.
Welche Gründe sehen Sie?
Der deutsche Fußball hat seine grundsätzliche Identität und damit wesentliche Stärken verloren. Sicherlich waren Veränderungen und Innovationen notwendig, wie der wichtige Übergang von der einst gängigen mann- zur raumorientierten Spielweise. Der Ballbesitzfußball und die taktische Flexibilität durch den Einfluss ausländischer Trainer waren ebenfalls wesentliche Elemente.
Sie meinen Pep Guardiola?
Ja, aber auch jüngere Trainer wie Julian Nagelsmann gaben wichtige Impulse. In der Wahrnehmung und Argumentation wurde derVeränderung und Innovation ein höherer Stellenwert zuerkannt als den traditionellen Stärken. Diese wurden fälschlicherweise als Rumpelfußball, Fußball von gestern oder oldschool abgetan. Die Balance zwischen Innovation und Tradition, um unsere Identität zu bewahren, ist uns nicht geglückt. Bewusst provokativ stelle ich mir, wenn ich den deutschen Fußball gerade sehe, die Frage: Wofür steht der deutsche Fußball heute eigentlich? Ich kann es nicht erkennen. Wenn wir über die europäische und die Weltspitze sprechen, kann es nur ein Ziel geben: Titel zu gewinnen. Und das tun wir nicht.
Warum sind Titel in so weite Ferne gerückt?
Bei der Klub-WM mussten die Bayern gegen Paris zwei wesentliche Ausfälle hinnehmen, Musiala und Stanisic. Außerdem ist PSG im Moment die Benchmark. Die Dortmunder hatten ihren Saisonhöhepunkt mit Platz 4 in der Bundesliga, ihr Abschneiden in den USA war okay. Wir müssen bei unseren Beurteilungen aber auch differenzieren und kritisch-konstruktiv diskutieren und dürfen Ergebnisse nicht, nur damit es keine Unruhe gibt, künstlich beschönigen. Im Schönreden sind wir noch immer stärker als in der kritischen Analyse.
Der deutsche Fußball belügt sich also selbst?
Wir wollen uns eher beruhigen, nachdem die Welt um uns herum aus den Fugen geraten ist. Es handelt sich also um einen zutiefst menschlichen, psychologischen, existenziellen Hintergrund, den die anderen Nationen aber genauso haben. Ich will nur verstehen, warum wir in dieser Auseinandersetzung über die Qualität unseres Fußballs nicht mehr wir selbst sind. Wir reden uns unseren Fußball oft zu schön.
Was meinen Sie damit konkret?
Der deutsche Fußball hat, als er stark war, de allerhöchsten Maßstab an sich gesetzt. Die vielen Erfolge wurden mit Freude, aber auch mit Sachlichkeit ganz klar analytisch registriert, es erfolgte sofort die Fokussierung auf die Zukunft. Heute versuchen wir oftmals nur noch zu erklären, wieso wir nicht erfolgreich sein können.Das Viertelfinale bei der EM 2024 wurde in der Öffentlichkeit verkauft wie ein Titel. Wir verkaufen also Durchschnitt als außergewöhnlich. Ich finde dagegen, dass wir das Außergewöhnliche in den Mittelpunkt stellen müssen. Das Außergewöhnliche muss wieder das Gewöhnliche werden. Die positiven Elemente, die auch im Durchschnitt vorhanden sind, dürfen wir sehr wohl benennen, aber das Schlechte, das in der Regel das Unangenehme ist, dürfen wir nicht
vergessen. Das Unangenehme sprechen wir aber nicht mehr an. Das Beste muss unser Maßstab sein.
Und doch sind Sie mit den Viertelfinals zufrieden?
Weil die Nationalelf aus einer schwierigen Situation kam. Der DFB hat mit Rudi Völler und Nagelsmann versucht, eine gewisse Ruhe und Systematik reinzubringen. Da habe ich Fortschritte gesehen.
Wie hätte der DFB-Sportmanager Sammer, der Sie von 2006 bis 2012 waren, reagiert, wenn Abwerbebemühungen der Bayern vor dem EM-Finale der U 21, siehe Nick Woltemade, bekannt geworden wären?
In jedem Fall war die Woltemade-Diskussion kontraproduktiv. Dieses Thema war ein Schlag, wow. Wow kann ich nicht mit Streicheln begegnen. Eine klare Ansage wäre da richtig gewesen. Warum hat kein Offizieller des DFB das sofort unterbunden? Da hätte ich mir seitens des Verban des gewünscht,dass ein Verant innen die Botschaft vermittelt: Über das Thema Woltemade können wir nach dem Turnier sprechen. Auch bei der WM 2022 war die Kapitänsbinde ein Thema mit einer völlig falschen Priorität. Die Ablenkung war zu groß. Es ist nicht messbar, wo die dadurch verursachten fehlenden Prozente liegen, um Sieger oder Verlierer zu sein. Grundsätzlich gilt: Schwierigen Themen kann ich nur, wenn es im Sinne des Erfolgs erforderlich ist, mit Klarheit und Deutlichkeit begegnen.
Andreas Rettig, DFB-Geschäftsführer Sport, nannte hinterher den Zeitpunkt der Bayern-Aktion suboptimal. Hätten Sie das den Bayern sofort gesagt?
Ich hätte gar nicht gegen Bayern argumentiert, sondern für den DFB und gesagt: Alles, was den Titelgewinn gefährdet, gehört nicht vor dieses Finale. Und ich hätte womöglich mit Konsequenzen gedroht, wenn es nicht aufhören würde. Woltemade hätte ich nicht in die Pressekonferenz vor dem Finale gesetzt. All das muss eine Führungskraft aussprechen. Wir brauchen Führungskräfte, die einer jungen Mannschaft mit Spielern teils ohne Turniererfahrung eine Linie vorgeben.
Wo ordnen Sie den deutschen Fußball aktuell ein?
Für mich geht es darum, wofür wir stehen und wohin sich der Fußball entwickelt. Da sehe ich als ersten Punkt die Fitness und Kondition. Wir haben dem Gegner immer das Gefühl gegeben: Wir sind nicht zu schlagen. Unter dieser Prämisse frage ich mich, ob Grundlagenausdauer bei uns noch eine Bedeutung hat. Das Spiel ist schneller geworden, das bedeutet mehr Aktionen. Dafür brauche ich die Grundlagenausdauer, ebenso für die immer wichtigere Regeneration. Grundlagenausdauer ist auch Stressabbau. Ich habe aber das Gefühl, dass das, was den deutschen Fußball immer ausgezeichnet hat, heute nicht mehr als Stärke aufgefasst wird. Dieses Erfahrungswissen ist verloren gegangen.
Wird bei uns Spaniens Fußball zu sehr verehrt?
Es wurden ausländische Elemente übernommen, ohne dass wir wussten, worin diejahrzehntelange Erfahrung und Qualität der jeweiligen Trainingsinhalte beruhten. Auch Athletic Performance hat beim DFB mit wichtigen Elementen wie Explosivität und Schnellkraft Einfluss genommen. Bis dahin ist alles gut. Aber es ist kontraproduktiv, das als die einzige Wahrheit zu übernehmen und die Grundlagenausdauer wegzulassen. Nicht der Spanier Merino hat mit seinem Kopfball Deutschland im EM-Viertelfinale besiegt, sondern es lag vielleicht auch daran, dass wir -anders als früher - physisch nicht mehr dominieren.
Was ist der zweite Punkt?
Das Abwehrverhalten. Sind wir noch in der Lage zu verteidigen, und zwar gemeinsam? Ich kann im Moment nicht erkennen, dass deutsche Teams über die nötigen Qualitäten und die Stabilität verfügen, wenn es an schlechten Tagen nicht läuft oder die Spielidee nicht aufgeht. Die Sicherheit, in schwierigen Spielphasen, in denen der Gegner dominiert, mit unseren Mitteln - Zweikampfund Aggressivität in einer guten Grundordnung -gegenzuhalten, zählt nicht mehr zu unseren Stärken. Aktuell beschäftigen wir uns zu viel taktisch mit dem Ball und der Positionierung. Keine Mannschaft hat immer den Ball. Deshalb entwickelt sich der aktuelle Fußball, geprägt von sehr erfahrenen Trainern wie Spaniens Nationalcoach Luis de la Fuente und vor allem Luis Enrique in Paris, in die Richtung, dass es auf die Kombination zwischen körperlicher und damit geistiger Verfassung, zwischen Ballbesitzfußball und der aufopferungsvollen Bereitschaft zu verteidigen ankommt. Damit komme ich zum vielleicht wichtigsten Punkt...
... der da wäre...
Persönlichkeit. Früher konnten die Gegner kaum analysieren, wieso deutsche Teams nicht zu bezwingen waren. Dafür gibt es keine messbaren Faktoren. Unsere Identität braucht vor allem Persönlichkeit. Über Führungsspieler, Hierarchie, Gruppendynamik wird bei uns zu wenig gesprochen. Das hat mehrere Ursachen. Zum Beispiel hat sich der deutsche Fußball zu sehr der Datenanalyse ausgeliefert und vergessen, dass die Beobachtung eines Spiels oder des Trainings eine wesentliche Form der Analyse ist. Aber die, die Daten liefern, beherrschen meistens die Beobachtung nicht mehr. Wir brauchen eine bessere Balance zwischen Beobachtung und Daten als Mittel zur Analyse
Steht der aktuelle deutsche Fußball in Reihe 2?
Der deutsche Fußball muss wieder lernen, Durchschnitt nicht als Weltklasse zu verkaufen.
Wie nach dem Viertelfinal-Aus bei der EM 2024?
Im Vergleich zur Situation zuvor war die EM eine Verbesserung. Aber die Analyse fiel übertrieben pоsitiv aus. Es fehlte der Mut, bei unserem Maßstab zu sagen: Entschuldigung, wir sind im eigenen Land im Viertelfinale ausgeschieden, egal gegen wen.
Wie beurteilen Sie Rang 4 bei der Nations League?
Die allgemeine Botschaft lautete: Wir haben nicht genuggute Spieler, andere Nationen haben mehr. Da brodelt es in mir. Denn hatten in der Vergangenheit andere nicht auch eine bessere Individualität? Auch ohne ein paar Leistungsträger haben wir ausreichend gute Spieler. Deshalb kann es nicht der analytische Maßstab des Fußballlandes Deutschland und auch nicht die nach außen kommunizierte Erkenntnis sein, dass die anderen mehr bessere Spieler haben. Ich bin bei Toni Kroos, der gesagt hat, wir haben gegen Portugal geführt und mussten gegen Frankreich führen, hätten dann aber auch drei, vier, fünf Tore kassieren können.
Was läuft da schief?
Man muss klären, wie bei Rückstand für Ordnung und Stabilität gesorgt wird. Wirjedoch haben dann schlecht verteidigt, was auch mit persönlichkeits- relevanten Themen zu tun hat. Ich hatte das Gefühl, dass es nur darum ging, Lösungen mit dem Ball zu finden, statt die unsichere Situation zu beruhigen.
Haben die drei Auswechslungen bei einer 1:0-Führung die Mannschaft zusätzlich destabilisiert?
Mich haben diese Auswechslungen auch verwundert. Ich wusste, dass Nagelsmann ein taktisches Element im Kopf hatte, das es überhaupt nicht zu kritisieren gilt. Aber ich würde ihm gerne zurufen: Warum gab es diese Änderungen, wenn wir die Persönlichkeitsrelevanz und Stabilität einer Mannschaft betrachten? Denn Veränderungen bedeuten stets eine gewisse Unruhe. Also frage ich mich: Ist die Taktik wichtiger als die Sicherheit?
Wie lautet die Antwort?
In unserem Fußball herrscht zurzeit eine falsche Interpretation vor. Wir haben keine Künstliche Intelligenz auf dem Platz, keine KI, sondern denkende und fühlende Menschen, die Selbstvertrauen und Abläufe brauchen. Nach der WM in Katar haben wir diskutiert: Was, Julian Nagelsmann, ist in dieser Situation wichtig? Die Antwort war: Versuche eine stabile Gruppe zu bilden und ein festes System zu etablieren, um dadurch Stabilität und Selbstvertrauen zu geben Wir Deutschen sind, wie man an unserer Fußballgeschichte sieht, immer mannschaftlich geschlossen, robust und kompakt aufgetreten. Wir hatten Einzelspieler, die Genies waren; aber als Mannschaft waren wir eine Maschine. Heute
sind wir noch maximal ein Maschinchen. Gegen Italien wechselte Nagelsmann bei einer 3:1-Führung ebenfalls dreimal, Endstand 3:3. Will dieser Bundestrainer zu viel Einfluss nehmen?
Ein Trainer muss Einfluss nehmen. Aber wir müssen grundsätzlich die Prioritäten richtig setzen. Wenn wir Paris analysieren, sehen wir, dass diese Elf in der Lage ist, Angriffspressing zu spielen, und dass sie ganz hoch stört, aber dann mannorientiert durchdeckt. Paris spielt mannorientiert - das ist eine deutliche Veränderung im Fußball.Aber diese Mannschaft lässt sich auch zurückfallen. wenn sich der Gegner ins Mittelfeld vorgespielt hat; so gewinnt sie als Team Sicherheit. DonnarummaMarquinhos-Vitinha bilden eine unglaubliche Achse mit Persönlichkeit und Ausstrahlung. Damit hat Luis Enrique wichtigen Einfluss genommen.
Hat er auch Bayern gezeigt, wie man Inter besiegt?
Der 5:0-Sieg spricht für PSG.Was er Dembelé vermittelt hat, ist unglaublich. Dembelé liefbis zur letzten Minute an, als gäbe es kein Morgen mehr. Ein weiterer Trainer mit höchsterErfahrung ist de la Fuente. Die Spanier wurden 2024 Europameister, weil sie in Yamal und Nico Williams sicher über große Individualität verfügten, aber auch stark verteidigt haben. Sie wiesen eine komplexe Stärke auf. Die Spanier zeigen ihre originären Qualitäten, haben aber dazugelernt, dass das Gewinnen einen genauso hohen Wert hat. Die deutsche Priorität lag stets auf dem Gewinnen, dann dem Organisieren.
Wann schlich sich das Umdenken ein?
Wir sind schockverliebt in Taktik und Ballbesitz, haben mit deren Übernahme einiges verbessert, aber Wesentliches verloren. Die Spanier haben uns überholt in ihrer Erkenntnis, dass zuerst der Sieg zählt und Schönheit ein edles Zusatzelement sein darf. Wir stellen Schönheit und erst dann de möglichen Erfolg in den Mittelpunkt, ohne zu merken, dass diese Reihenfolge nicht zu uns passt.
Ist hierzulande die Party wichtiger als die Leistung?
Wir bewerten Dinge über und sehen manches künstlich positiv, wofür ich sogar Verständnis habe. Aber die Verantwortlichen in den Klubs und im Verband müssen die richtigen Einschätzungen und Maßnahmen vornehmen, mit den Gesetzen des Leistungssports. Eine Bilanz darf erst nach einem Wettbewerb erstellt werden. Wir haben jede stabile Mitte verloren. Ich schüttle manchmal den Kopf und frage mich, ob ich von gesternbin. Wenn ich dann aber andere, erfolgreiche Nationen anschaue, orientiere ich mich lieber an denen De la Fuente jubelt bei einem Tor nicht übertrieben, da findet kein Halligalli statt. Wir flippen schon nach der Vorrunde aus, sodass ich gar nichtweiß, wo noch eine Steigerung zum Titel sein soll.
Wer ist verantwortlich für diese Fehlentwicklung?
Ich möchte nicht von einer Fehlentwicklung sprechen. Wir müssen unseren Fußball nur neu justieren und Schwerpunkte definieren. Wir brauchen keine flachen Hierarchien mehr. Des Weiteren haben die Führungsleute in den Vereinen sowie im Verband die Aufgabe, die Richtung vorzugeben. Manchmal geht es mir zu sehr um persönliche Eitelkeiten. Das große Plus im Mannschaftssport stellt aber immer die Gemeinsamkeit dar.
Lieferte der verweigerte Handelfmeter gegen Spanien ein willkommenes Alibi für das frühe EM-Aus?
Die Leute, die bei der Nations League Cucurella ausgepfiffen haben, sollten sich schämen. Ich möchte mich bei Cucurella für die peinlichen Pfiffe entschulverbessert und darauf geachtet, dass die Zahl der Gegentore geringer wurde und in der Offensive mit Laufwegen, höherer Flexibilität und Individualität mehr Tore erzielt wurden. Aber der wichtigste Aspekt seiner Arbeit ist: Er hat dieSpielerstabilisiert, ihnen Selbstvertrauen gegeben und sie einbezogen. Kovac ist ein intelligenter Trainer, weil er alle Elemente, die den Spitzenfußball und seine Gewinner prägen, in die BVB-Mannschaft implementiert. Was Niko macht, ist klug und von Fachwissen gekennzeichnet. Er mag in Deutschland als konservativer Trainer gelten, ist aber sehr fortschrittlich. Es gab Leute, die meinten, er habe keinen Plan B. Plötzlich hat er von der Viererkette auf Dreier-und Fünferabwehr umgestellt. Mir gefällt außerdem, dass er als Persönlichkeit auf digen. Außerdem sollten wir uns auf Top-Niveau nicht von Glück oder Pech abhängig machen.
Der Bundestrainer sprach nach dem EM-Aus sofort vom WM-Titel. War dieser Spruch eine strategische Zielvorgabe oder eine unreflektierte Trotzreaktion?
Ich bin immer ein Freund allerhöchster Zielsetzungen. Zuvor aber müssen wir die Grausamkeit der Realität benennen. Was tun wir? Wir überhöhen das Gute und deuten das Schlechte allenfalls etwas an. Ein Beispiel: Paul Breitner schrieb als Kolumnist Anfang der 1990er, der Sammer gehöre überhaupt nicht in die Nationalelf. Das tat mir weh. Aber am nächsten Tag sagte ich mir: Paul, dir zeig ich's! Mit Leidenschaft, Freude und etwas Arroganz nehme ich für mich in Anspruch, dass ich Erfahrung darin habe, wovon ich rede. Kritische Äußerungen, so lernte ich es im Elternhaus, helfen, um besser zu werden. Die Zukunft können wir positiv verändern, aber dazu dürfen wir die Gegenwart nicht verklären. Unser Trainer beim BVB, Niko Kovac, ist das Spiegelbild für all das, was wir gerade im deutschen Fußball besprechen.
Wie das?
Er ging in Dortmund analytisch vor, hat die körperliche und geistige Verfassung der Mannschaft diesen Verein wirkt.
Wie tut er das?
Sein Persönlichkeitsprofil lässt gar nicht zu, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Er sieht sich als Teil des Vereins und dieser Mannschaft. Nach Platz 4 sagte er: Es ist wunderbar, die Champions League erreicht zu haben, doch es gibt keinen Grund zu feiern, wir sind nur Vierter geworden, das ist nicht der Maßstab des BVB. Ich bin froh, dass der BVB diesen Trainer hat.
Also: Vertragsverlängerung über 2026 hinaus?
Niko weiß, dass die vergangene Saison ein permanenterAusnahmezustand war und er die richtigen Hebel bedient hat. Genauso habe ich ihm gesagt, dass spätestens zu Beginn der neuen Saison für ihn wie für den gesamten Verein die Uhren wieder auf null gestellt sind. Lars Ricken...
... der Geschäftsführer Sport in Dortmund... .
..hat intern frühzeitig klar gesagt, er wolle einen Trainer wie Niko Kovac zumindest mittelfristig binden. Was ich jetzt wahrnehme, kann daraus durchaus eine langfristige Lösung werden.
Sind Sie dafür?
Ich sage meine Meinung intern. Aber meine Worte sind doch deutlich genug.
Warum halten Sie sich beim BVB so zurück?
Gerade in Krisenzeiten braucht es keine öffentlichen Selbstdarsteller. Nach 2016 und dem Abschied von Bayern München habe ich die Grundsatzentscheidung getroffen, nicht mehr operativ tätig zu sein. 2018 kam ich als Berater zurück nach Dortmund, bis zum heutigen Tag habe ich Aki Watzke, den BVB-CEO und inzwischen wichtigsten Mann im deutschen Fußball, als absolut verlässliche Persönlichkeit erlebt. Auf dieser Basis will ich dem Verein dienen. Vielleicht erwarten die Menschen, dass ich mich öffentlich äußere. Aber mein Job ist, die Dinge, die ich sehe und wahrnehme, innerhalb des BVB anzusprechen.
Im Februar benannten Sie die BVB-Defizite öffentlich, Kovac kam für Nuri Sahin. Wirkung lässt sich doch vor allem über die Öffentlichkeit erzielen.
Ja, durchaus. Grundsätzlich ist das aber nicht meine Rolle.Vielleicht war ich in diesem Moment in Bologna zu sehr Fan und zu emotional.
Sprechen Sie manchmal vor der Mannschaft?
Nein. Ich rede nur im Führungskreis.
Was bedeutet Watzkes Abschied als CEO für Sie?
Ich bin davon nicht unmittelbar betroffen, mein direkter Ansprechpartner ist mittlerweile Ricken. Er ist eine Führungspersönlichkeit, ein Pragmatiker, ein Teamplayer mit einer eigenen Meinung und einem klaren Kopf. Zu Jobe Bellingham fuhr er fest entschlossen, als ein Transfer aussichtslos schien. Er hat da mit viel Weitsicht agiert.
Ihr Vertrag lief aus, ein neuer bis 2027 ist in der Mache.Wann wird Ihre Verlängerung bekannt gegeben?
Ich liebe diesen Klub und wollte nicht gehen, als Borussia auf Platz 11 stand. Jetzt sind wir Vierter. Ich will mithelfen, dass es weiter aufwärts geht.
Ricken war zufrieden mit der Klub-WM. Lassen sich die BVB-Bosse vom Saisonfinale wieder blenden?
Es gibt immer eine äußere Unwahrheit und eine interne Wahrheit. Intern herrscht ein kritischer Umgang. Ricken lässt sich wie Kovac nicht blenden, mit beiden kann man alles wunderbar besprechen.
Denken Sie mit 57 Jahren nicht, dass Sie eigentlich noch einmal voll reinmüssten ins Geschäft?
Gar nicht. Eine Rückkehr ins operative Geschäft ist für mich keine Option, außer ich wäre unglücklich mit meinem Leben und dem aktuellen Zustand. Dann müsste ich mich hinterfragen...
Welcher neue Job wäre für Sie denkbar? Trainer?
Eine Rückkehr als Trainer schließe ich aus. Und alles andere steht derzeit nicht zur Diskussion, da ich ein glücklicher Mensch bin.