25. Mai 2013, London, 19:36 Uhr (MESZ) Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenig-ge sitzen im Fond einer Limousine und blicken hinaus auf die Straßen Londons. Keiner von beiden spricht ein Wort. Seit fünf Tagen plagt Rummenigge ein hefti-ges Magengrummeln. Die Anspannung vor dem Match in Wembley hinterlässt ihre Spuren. Wie viele Finals haben die beiden als Klubverantwortliche schon erlebt? Sie können es kaum noch zählen. Doch ihr Gefühl ist anders als bei allen End-spielen zuvor. Sonst bestimmte Vorfreu-de, die Aussicht aufs Gewinnen, stets ihr Empfinden. Diesmal jedoch blicken sie voller Sorge auf die Partie. Bayern hat nach 2010 und 2012 das dritte Mal binnen kurzer Zeit das Finale der Cham-pions League erreicht. Doch anders als bei den vorigen Spielen wird es in Wem-bley zu keinem Kräftemessen mit einem internationalen Großklub kommen, in dem Tagesform und Spielglück entschei-den. Im Aufeinandertreffen mit Borussia Dortmund geht es um viel, viel mehr. Der BVB hat den Rekordmeister in der Bundesliga zwei Jahre in Folge auf die Plätze verwiesen. Die Westfalen mit ihrem jungen, aufregenden Kader, dem schlagfertigen Coach Jürgen Klopp und dem selbstbewussten Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke sind nicht nur cooler als die stampfenden „Mia-san-Mia"-Bayern, sie sind auch erfolgreicher. Die Rivalität ist am Siedepunkt. Wenn Rummenigge und Watzke in ihren Fe-rienhäusern auf Sylt auftanken und sich bei Spaziergängen begegnen, würdigen sie sich nur mühsam eines Blickes. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass die Münchner in der Saison 2012/13 seit dem 30. Spieltag als Meis-ter feststehen. Denn was ist der Ligatitel wert, wenn die Dortmunder das erste in-nerdeutsche Champions-League-Finale aller Zeiten für sich entscheiden? Und die Bayern-Profis endgültig zur Vize-Ge-neration abstempeln. Mit diesen Empfin-dungen fahren die Bosse nach Wembley. Getrieben von der Angst vor dein Verlust der Hegemonie im deutschen Fußball.
12. Mai 2012, Olympiastadion Berlin Es läuft die 61. Minute im DFB-Pokal-Finale 2012. Robert Lewandowski hat das 4:1 für den BVB erzielt. Borussia Dortmund lässt den Bayern nicht den Hauch einer Chance. Shinji Kagawa hat das Torfestival bereits nach drei Minuten eröffnet, Lewandowski trifft dreifach, am Ende siegt der BVB mit 5:2. Es ist das erste Double in der Dortmunder Ver-einsgeschichte. Zuschauer singen: „Kein
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Schuss, kein Tor, die Bayern!" Doch in den Katakomben des Olympiastadions dämmert den Jubelnden, dass sich das Ende der Glückseligkeit bereits abzeich-net. BVB-Teammanager Fritz Lünscher-mann sitzt freudetrunken in der Kabi-ne, als die Bayern-Spieler schimpfend vom Rasen den Gang hinunterkommen. Es ist, als höre er, wie dort alle Alarm-glocken schrillen. Bald schon wird von Münchner Seite ein intensives Werben um Dortmunder Schlüsselspieler wie Lewandowski und Mario Götze beginnen.
19. Mai 2012, Allianz Arena, 23:49 Uhr Uli Hoeneß sitzt auf der Tribüne und hat den Kopf gesenkt, seine Frau Susi strei-chelt ihm tröstend den Nacken. Soeben hat Bastian Schweinsteiger im Elfmeter-schießen gegen den FC Chelsea nur den Innenpfosten getroffen. Der Ball ist im Rücken von Petr Cech zurück ins Feld gesprungen. Der FC Chelsea, ein Team aus in die Jahre gekommenen Stars, ge-winnt die Champions League. Das Jahr-hundertereignis „Finale dahoam", diese einzigartige Chance in der 112-jährigen Geschichte des Vereins, im eigenen Sta-dion den wichtigsten Klubtitel der Welt zu gewinnen, endet für den FC Bayern mit einem üblen Kater. Die Münchner sind fast die komplette Spielzeit über-legen. Als es dennoch zum Elfmeter-schießen kommt, winken reihenweise Bayern-Spieler ab. Sichere Schützen wie Thomas Müller und Franck Ribery hat Jupp Heynckes bereits ausgewechselt. Arjen Robben, der in der Verlängerung einen Foulelfmeter verschossen hat, entgegnet auf die Frage von Co-Trainer Hermann Gerland, ob er im Shoot-Out antrete: „Nein, das wäre nicht so gut!" Auch Tymoschtschuk dreht sich weg, Kroos ebenfalls. In der Dramatik zeigt sich, dass es einigen offenbar am Quänt-chen Siegermentalität fehlt. Schließlich tritt Manuel Neuer aus Mangel an Schüt-zen an — und verwandelt sicher. Schon am nächsten Tag werden die Bayern-Bosse die Köpfe zusammenste-cken, um die Konsequenzen zu bespre-chen. Sportdirektor Christian Nerlinger kann sich seine Papiere abholen. An ihm klebt der Makel zweier verlorener Champions-League-Finals und — fast noch schlimmer — der Wachablösung in der Liga. Ein Nachfolger ist schnell gefunden: Obwohl Uli Hoeneß DFB-Sportdirektor Matthias Sammer intern oft als vorlaut ge-scholten hat, scheint der hitzige Dresdner
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ihm in dieser Situation der ideale Mann, um neue Reizpunkte zu setzen. Sammer ist mit Mehmet Scholl befreundet, der of-fenbar in der Führung der Bayern ein gu-tes Wort für ihn eingelegt hat. Bei seiner Vertragsverlängerung mit dem DFB hat sich Sammer deshalb eine Ausstiegsklau-sel eintragen lassen, falls Bayern anfragt.
Sommerpause 2012, Sylt, 10:00 Uhr Im Ferienhaus von Karl-Heinz Rumme-nigge klingelt das Telefon. Wie an fast jedem Tag in diesem Sommer ruft Jupp Heynckes an, um zu besprechen, wie sie die Mannschaft verbessern können. Neu-verpflichtungen sind schnell ausgemacht: Für Stabilität in der Abwehr soll der Bra-silianer Dante sorgen, der für 4,7 Millio-nen Euro aus Gladbach wechselt. Mario Mandzukic belebt den Konkurrenzkampf in der Sturmspitze mit Mario Gomez. Heynckes Wunschspieler jedoch ist der 24-jährige Javi Martinez, der für 40 Mil-lionen Euro aus Bilbao nach München kommt. Ein Sechser, ein pflichtschuldi-ger Organisator, der die Wirkungskreise von Bastian Schweinsteiger, Toni Kroos, vor allem aber die der Kreativabteilung „Robbery" erweitern soll.
25. Juli 2012, Trainingsplatz, Bad Ragaz Zeljko Buvac bittet um sieben Uhr mor-gens auf den Trainingsplatz. Der Assis-tent von Jürgen Klopp gilt als Schlei-fer. Vor dem Panorama der Schweizer Alpen laufen die Spieler gruppenweise 1000 Meter in höchstem Tempo. Beim Frühstück spürt Kevin Großkreutz, wie seine Beine brennen. Und um zehn Uhr beginnt bereits das zweite Training. So sehr Großkreutz die Einheiten in der Vorbereitung auch hasst, er weiß, wo er herkommt und was ihn ausmacht. Vor drei Jahren spielte er noch in Ahlen in der zweiten Liga, Fitness ist seine Wäh-rung. Am Abend im Testspiel gegen den FC St. Gallen läuft Großkreutz kurz vor Schluss bei einem Konter quer über den Platz und erzielt den Siegtreffer.
26. Juli 2012, Guangzhou-Stadion, China Seit zehn Tagen sind die Bayern auf Promotionreise durch China. Hohe Luftfeuchtigkeit und teils extreme Hit-ze schlauchen das Team. Am letzten Tag trifft die Elf am VW-Standort in Guang-zhou auf Wolfsburg. Bis in die Nachspiel-zeit führt der Rekordmeister mit 2:0, ehe den Wölfen der Ehrentreffer gelingt. Matthias Sammer ist seit drei Wo-chen Sportvorstand. Seine Zielsetzung ist klar: Er will die Leistung der Mannschaft so organisieren, dass sich die Wahrschein-lichkeit des Erfolgs erhöht. Sammer ist es
egal, ob ihn die Spieler mögen, ihm geht es nur um eins: Erfolg. Seit seinem Amts-antritt beobachtet er jedes Training, führt ständig Gespräche und hat herausgefun-den, dass es ein Hierarchieproblem im Team gibt. Einige Profis sind unzufrieden, weil sich die Stars RiMry und Robben zu wenig in den Dienst der Mannschaft stel-len. Wie kann es sein, fragt sich Sammer, dass zwei Individualisten den Grundton im Kader bestimmen? Er zieht Manuel Neuer, Bastian Schweinsteiger und Phi-lipp Lahm ins Vertrauen. Sie sollen die Gesichter dieser Mannschaft werden. Sammer fragt: Wollt ihr eine Loser-Ge-neration bleiben? Wenn nicht, sprecht mit einer Stimme, gebt auf dem Platz den Weg vor. Ihr könnt euch meiner Rücken-deckung sicher sein. Bei Sammers Amtsantritt stand nicht fest, ob Heynckes Trainer bleibt. Doch da nun klar ist, dass der 68-Jährige weitermacht, haben sich Sammer und er zugesagt, sich nicht gegenseitig in den Verantwortungsbereich zu funken. Doch klar ist auch: Der Sportvorstand ist dem Coach in der Hierarchie vorgesetzt. Als die Mannschaft nun nach Ab-pfiff des belanglosen Testspiels wegen der Hitze in die klimatisierten Katakom-ben trabt, hat sie die Rechnung ohne Sammer gemacht. Noch auf dem Rasen setzt er zu einer Gardinenpredigt an, die es in sich hat. Wie kann es angehen, dass
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What? In 66 Jahren Landesmei-stercup treffen erstmals zwei deutsche Teams im Finale aufeinander.
ihr kurz vor Schluss so unkonzentriert seid? Habt ihr nicht verstanden, um was es geht? Wollt ihr immer auf der Zielge-rade überholt werden? Noch in der Kabi-ne rohrspatzt Sammer derart, dass viele den Kopf schütteln. Und doch hat sein Ausbruch einen Effekt, weil sich einige fragen: Hat der Mann am Ende Recht?
12. August 2012, Allianz Arena, 19:59 Uhr Philipp Lahm läuft ins Münchner Sta-dion ein, neben ihm der Dortmunder Kapitän Roman Weidenfeller. Das Fi-nale im deutschen Supercup steht an. Die Bayern dürfen nur mitspielen, weil die Westfalen als Double-Sieger den symbolischen Titel zum Saisonauftakt nicht mit sich selbst ausspielen können. Doch um die Trophäe geht es für Lahm nur am Rande. Er weiß: Dieses Spiel hat Signalwirkung. Eine weitere Niederlage gegen den Rivalen so früh in der Saison könnte richtungsweisend sein. Doch Bayern präsentiert sich als Einheit. Ri-bery und Robben haben offenbar ver-
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standen, dass sie nicht nur als Veredler im Angriff gebraucht werden, sondern auch in der Abwehr mitarbeiten müssen. Der FCB gewinnt mit 2:1. BVB-Coach Jürgen Klopp wird später zugeben, was ihm während der Partie durch den Kopf geht: „Als Robben und Rib6ry anfingen zu verteidigen, waren wir verloren ..."
30. August 2012, GrimaIdi-Forum, Monaco In Monaco werden die Kugeln zur Cham-pions-League-Gruppenphase gezogen. Für den BVB kommt es knüppeldick: Ajax Amsterdam, der niederländische Meister, Real Madrid und Manchester City. In den vergangenen beiden Jahren ist Borussia nicht über die Vorrunde in der Champions League und der Europa League hinausgekommen. Junge Spie-ler wie Mario Götze, Sven Bender oder Marcel Schmelzer wirkten wie Touristen, als sie mit ihren Handykameras die Sta-dien in Paris oder London filmten. Und jetzt? Die Mannschaft spürt, dass ihr im internationalen Wettbewerb nur wenige etwas zutrauen.
29. September 2012, Weserstadion, Bremen Der FC Bayern ist fulminant in die Sai-son gestartet. Am 6. Spieltag sind die Münchner noch ohne Punktverlust. Auch beim SV Werder fährt das Team einen ungefährdeten 2:0-Auswärtssieg ein und liegt in der Tabelle bereits Sieben
Zähler vor dem BVB. Matthias Sammer aber reicht es nicht, wie die Elf von Sieg zu Sieg tänzelt: „Vom Auftreten her wa-ren wir heute recht letschert. Wir waren nicht hellwach, wir waren nicht gallig!", motzt er nach Abpfiff, „dafür müssen wir die Ursachen suchen." Spätestens jetzt ist klar, dass er und Heynckes in dieser Sai-son keine Freunde mehr werden. Intern hat der Coach bereits bekundet, wie sehr ihm gegen den Strich geht, dass Sammer bei jedem Training aus der Lounge an der Säbener zuschaut und jede seiner Regungen von Reportern begierig auf-gesogen wird. Nicht nur Heynckes fragt sich: Wozu braucht ein so erfahrener Trainer einen Aufpasser?
2. Oktober 2012, Dinamo-Stadion, Minsk Die Replik erfolgt drei Tage später vorm zweiten Champions-League-Gruppen-spiel bei Bate Baryssau. Auf den Vorfall angesprochen, erklärt der Trainer: „Mit der Form, der Art und Weise war ich nicht einverstanden. Das habe ich ihm auch gesagt. Ich finde, dass die Kritik überzogen war. Ich finde auch, wir sol-len die Kritik intern machen und nicht extern." Doch die Eskalation prallt am Feuerkopf a. D. ab. Wer ihn kenne, so Sammer, wisse, dass seine Aussagen harmlos gewesen seien. Man müsse ihn mal wirklich sauer erleben. Und die Hal-tung, dass alles, was er als Sportvorstand sage und tue, nur dem Ziel diene, die Mannschaft wachsamer und verschwo-rener zu machen, wird er durchziehen. Dass er mit seiner Analyse in Bremen nicht ganz falsch liegt, zeigt sich schnell: Bayern unterliegt Bate Baryssau mit 1:3.
31. Oktober 2012, Allianz Arena Jupp Heynckes wächst von Tag zu Tag en-ger mit seinem Kader zusammen. Philipp Lahm nennt ihn „Spielerversteher". Er kennt die Partnerinnen seiner Profis alle-samt beim Namen, fragt oft, wie es Frau und Kindern geht und nimmt auch mal Zeugwart oder Busfahrer in den Arin, um ihnen zu versichern, wie wichtig ihr Job für den Erfolg der Mannschaft ist. Heynckes weiß, dass er im Laufe der langen Saison jeden Einzelnen brauchen wird. Und so ist sein Umgang mit jedem Profi, jedem Staffmitglied geprägt von Respekt und höchster Wertschätzung. Ersatzkeeper Tom Starke, der zu Saisonbeginn aus Hoffenheim nach München gekommen ist, weiß, dass er an Manuel Neuer nicht vorbeikommt. Dennoch gelobt Heynckes: „Tom, wir haben den Weltbesten im Tor. Aber ich verspreche dir, auch du wirst Deutscher Meister!" Der Trainer hält Wort, er setzt
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Starke im Lauf der Saison mehrfach von Beginn an ein. Seine Premiere erlebt der Schlussmann in der zweiten Pokalrunde gegen den 1. FC Kaiserslautern. Nach der 1:2-Heimniederlage gegen Bayer Lever-kusen (der einzigen in dieser Bundesliga-saison) stellt Heynckes die Startelf für das Pokalspiel auf zehn (!) Positionen um. Doch die Veränderungen erzeugen kei-nerlei Reibungsverluste, auch die zweite Garnitur des Bayern-Kaders schnurrt in-zwischen wie eine geölte Maschine — und zieht mit 4:0 in die nächste Runde ein.
27. November 2012, Westfalenstadion Vor dem 14. Spieltag hat Titelverteidiger Dortmund bereits neun Punkte Rück-stand. Im Dienstagabendspiel gegen Fortuna Düsseldorf grätscht Kevin Groß-kreutz den Ball beim Stand von 1:1 aus einem Meter freistehend über das geg-nerische Tor. Noch in der Nacht schreibt Jürgen Klopp an Großkreutz, versucht. ihn mit Nachrichten aufzubauen. Zwi-schen den beiden hat sich eine Freund-schaft entwickelt, Klopp kennt Groß-kreutz' Familie. In der Kabine neigt der Trainer mitunter zum Jähzorn, so dass ihm die Brille vom Gesicht fällt, wenn er Flaschen durch den Raum wirft. Doch Klopp weiß genau, wie er seine Spieler packt. In welchen Momenten sanfte Emotionen gefragt sind und wann er den Vorschlaghammer auspacken muss. Seit Jahren predigt er: Wir denken von Spiel zu Spiel. Doch nun dringt auch zum Team durch, dass mit dem Punkt-verlust gegen die Fortuna die erneute Titelverteidigung in weite Ferne rückt.
15.Januar 2013, Säbener Straße, München Hermann Gerland schaut im Büro von Uli Hoeneß vorbei, so wie er es gerne macht. Die beiden reden über Gott und die Welt und darüber, wie souverän die Mannschaft unter Jupp Heynckes agiert. Hoeneß pflichtet Gerland bei, ja, ja, alles prima. Doch nach einer Pause verrät ihm der Präsident ein Geheimnis: Dass er ge-rade zu Gesprächen in New York gewesen sei und ab Sommer der neue Bayern-Trai-ner Pep Guardiola heißen werde. Gerland ist geschockt. Als er zurück auf den Trai-ningsplatz trottet, kommt ihm Heynckes entgegen, der von den Veränderungen nichts weiß. Er schaut ihn an: :,Was ist, Hermann, irgendwas stimmt doch nicht mir dir?" Gerland grämt sich: „Nichts, Jo-sef, alles okay." Doch Heynckes glaubt ihm nicht. Er spürt, dass etwas im Argen liegt.
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16. Januar 2013, Säbener Straße Rummenigge und Hoeneß sind verabre-det, um Jupp Heynckes mitzuteilen, dass Guardiola ab Juli seinen Posten überneh-men wird. Doch der Präsident taucht nicht auf. Es heißt, private Umstände hielten ihn davon ab. Rummenigge wird erst später erfahren, was sich ereignet hat: Hoeneß bereitet mit seinen Anwäl-ten eine Selbstanzeige wegen Steuerhin-terziehung vor. Als Heynckes an die Tür von Rummenigges Büro klopft, wundert er sich, dass sein alter Freund nicht da ist. Die Verwunderung schlägt jedoch in Enttäuschung und schließlich Trauer um, als ihm der Vorstandschef mit brüchiger Stimme mitteilt, dass seine Zeit beim FC Bayern abläuft. Mediendirektor Markus Hörwick veröffentlicht kurz darauf eine Pressemeldung, in der die Klubführung über die Neuverpflichtung informiert und gleichzeitig das Ende der Trainer-karriere von Heynckes verkündet. Auf diese Formulierung reagiert der Coach verschnupft. Wann er aufhöre, so Heyn-ckes, bestimme er immer noch selbst. Der Nachricht schlägt beim Lizenz-kader wie eine Bombe ein. Viele Spieler haben das Gefühl, dem väterlichen Trai-ner, dem nun so übel mitgespielt wird, etwas schuldig zu sein. Natürlich wollen sie für sich Titel gewinnen. Doch nach den Reibungen mit Sammer und der ver-frühten Nachfolgeregelung geht es auch darum, Grandseigneur Heynckes einen bestmöglichen Abschied zu bescheren und zu demonstrieren, wie eng das Band zwischen Team und Trainer ist.
9.April 2013, Westfalenstadion Im Viertelfinalrückspiel gegen Malaga gelingt dem BVB wenig: Weder die ein-fachen noch die schweren Pässe. In der Nachspielzeit braucht der BVB zwei Tore —also ein Wunder. Dann trifft Reus zum 2:2, kurz darauf der eingewechselte Felipe Santana. Irre! Subotic rennt zur Eckfahne. Er fühlt sich, als wäre er in einen Wasser-kocher gefallen. Wer soll sie jetzt stoppen?
23. April 2013, BVB-Trainingsgelände Eine Nachricht erschüttert Borussia wie ein Erdbeben. Die Spieler erfahren aus den Medien, dass sich Mario Götze — die Galionsfigur der jungen, wilden BVB-Ge-neration — im Sommer Bayern anschlie-ßen wird. Jürgen Klopp vergleicht die News mit einem „Herzinfarkt". Wer die Nachricht vom Wechsel durchgestochen hat, ist unbekannt. Doch die Vermutung liegt nahe, dass die Störfeuer aus Mün-chen kommen. Der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein: Am morgigen Abend wird der BVB Real Madrid emp-
Spieleryersteher: Der 68-jährige Jupp Heynckes passt als Trainer perfekt zum Bayern-Kader.
fangen. In den nächsten Wochen werden Mitspieler im Training sagen „Mario hat seine Seele verkauft" und lachen, doch bei einigen schwingt Enttäuschung m it. Kevin Großkreutz, der Götze oft nach dem Training trifft, zum Essen oder ein-fach, um abzuhängen, weiß auch nichts von dem Wechsel. Er ist geschockt. Das Abschlusstraining vor dem Halbfinale findet unter Polizeischutz statt. Groß-kreutz, der Kontakte in die Fanszene pflegt, wirbt. beim Anhang um Verständ-nis für den Kollegen. Er spürt, dass die Unruhe das Team um eine historische Chance bringen könnte. Weil Götze sich vor den Reaktionen der Fans fürchtet, holt ihn Großkreutz von zu Hause ab und bringt ihn ins Mannschaftshotel. Doch der Unmut hält sich in Grenzen: Gegen Madrid pfeifen nur wenige Zu-schauer bei Ballkontakten von Götze. Im Mittelpunkt steht Robert Lewandowski. Er schießt beim 4:1 vier Tore.
24. April 2013, Säbener Straße Rummenigge trifft einen 11 FREUNDE-Redakteur zum Interview. Seine Laune könnte nicht besser sein, fast drei Stunden redet er wie ein Wasserfall, lobt das Team und den Trainer: „Am meisten imponiert mir, dass in diesem Jahr bei uns keiner ausgeflippt ist:' Am Wochenende zuvor hat der FC Bayern vorzeitig die Meister-schaft klargemacht. So früh wie noch kein Klub zuvor in den 50 Jahren Bundesliga. Am Saisonende werden die Münchner vie-le Rekorde pulverisiert haben: Sie werden Meister mit der höchsten Punktzahl, dem größten Vorsprung und der besten Tordif-ferenz aller Zeiten. Besonders beglückt ist Rummenigge vom gestrigen Auftritt der
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Mannschaft gegen den FC Barcelona: Mit 4:0 hat der FCB Messi, lniesta & Co aus der Allianz Arena gefegt. Eine Machtde-monstration, die selbst die Hausherren in dieser Form nicht erwartet haben. Lionel Messi wird im Rückspiel eine Verletzung vortäuschen und das Match von der Bank aus erleben. Offenbar ahnt er, was seinem Team bevorsteht, denn auch in Katalonien triumphiert Bayern mit 3:0. Dass dieser Moment der Auftakt einer Ära sein kann, in der die Bayern die Bundesliga auf Jahre dominieren, glaubt Rummenigge auf 11 FREUNDE-Nachfrage aber nicht: „Schon vergessen, dass der FC Bayern in den zurückliegenden zwei Jahren nicht Deutscher Meister war?"
30. Apri12013, Santiago Bernabgu, Madrid Dortmund verliert in Madrid mit 0:2, aber es reicht: ,Nembley Calling!" steht auf den T-Shirts, die sich die Spieler nach Abpfiff überwerfen. Als die meisten Zuschauer längst das Stadion verlassen haben, kehrt die Mannschaft zurück aufs Feld. Einige tragen schwarz-gelbe Schals, die ihnen Fans runtergereicht haben. Sebastian Kehl, Großkreutz und Mar-cel Schmelzer liegen sich in den Armen. Viele Spieler werden später sagen, dies sei der schönste Moment der Saison ge-wesen. Julian Schieber nimmt sein Han-dy mit auf den Platz und macht Fotos. Die Touristen von einst haben sich fürs Champions-League-Finale qualifiziert.
25. Mai 2013, Piccadilly Circus, 12 Uhr London ist fest in Dortmunder Hand. An Sehenswürdigkeiten wie dem Piccadilly Circus bilden sich riesige Trauben von schwarz-gelben Fans. BVB-Marketing-leiter Markus Rejek hat mit werbewirk-samen Maßnahmen vorgelegt. Morgens stehen Liegestühle mit BVB-Handtü-chern am Straßenrand, ein grellgelber Doppeldecker gondelt durch die City. Die Verantwortlichen wollen die Aufmerk-samkeit um das Finale nutzen, um als nahbarer Klub mit dem noch frischen Slogan „Echte Liebe" eine eigene Nische im europäischen Fußball zu besetzen.
25. Mai 2013, The Grove, London, 16 Uhr Im Fünf-Sterne-Hotel „The Grove" star-ren viele BVB-Spieler auf ihre Handys. Nachdem sie mittags im Stadion ge-schwitzt haben, gibt es Kaffee und Ku-chen, jetzt versuchen einige zu schla-fen. Doch wie soll das an so einem Tag funktionieren? Immer wieder pingen
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Nachrichten ins Display. In der Stadt ist der Teufel los. Viele Schwarz-Gelbe sind ohne Tickets nach London gereist. Die letzte Ansprache von Jürgen Klopp ist kurz. Viermal trafen die Mannschaf-ten in dieser Saison schon aufeinander, kein Spiel konnte der BVB gewinnen. Die Profis wissen, worauf es ankommt: Kompakt stehen und früh Druck machen. Ribery und Robben auf den Außenbah-nen doppeln. Wenn es dem Niederländer nicht gelingt, aufs Tor zu schießen, ist schon viel erreicht. Klopp schärft seinen Spielern ein, dass beide Mannschaften nach der langen Saison müde sind. Ein frühes Tor wäre also nicht schlecht.
25. Mai 2013, Stadionkatakomben, Wemb-ley, 20:22 Uhr— Philipp Lahm sitzt in der Umkleide. Noch nie in seiner Laufbahn hat er einen vergleichbaren Druck ver-spürt. Er ist der Kapitän dieser Mann-schaft, die bislangvieles schuldig geblie-ben ist. Kopf einer Spielergeneration, die noch keinen großen Titel gewonnen hat. Zweimal hat er nach einem Champions-League-Finale den Platz als Verlierer ver-lassen. Mit der Nationalelf hat er bei vier Turnieren das Halbfinale erreicht, hat einmal sogar im Finale gestanden, aber Zählbares ist nie herausgesprungen. Und nun kann es passieren, dass ausgerechnet der große Rivale Borussia Dortmund ihm den ersehnten Henkelpott vor der Nase wegschnappt. Wenn es so käme, wäre es nicht ein letztes Indiz dafür. dass Lahms Führungsstil als Bayern-Leitwolf, die fla-chen Hierarchien mit ihm als hochbe-gabtem Primus inter Pares, für epochale Erfolge ungeeignet ist?
25. Mai 2013, Weinbley, 20:46 Uhr Die Anfangsphase ist geprägt vom Dort-munder Pressing. Manuel Neuer pariert einen Distanzschuss von Lewandowski, dann reagiert er geistesgegenwärtig ge-gen Jakub Blaszczykowski. Den Münch-nern gelingt kaum ein Pass in die Tiefe. Zu allem Überfluss tunnelt Großkreutz Bastian Schweinsteiger. Eine Szene, an die sich der Dortmunder ein Jahr später erinnert, als die beiden auf dem Weg zur WM im Bus nebeneinandeisitzen. Es ist das erste und einzige Mal, dass sich der Borusse das Finale noch einmal anschaut. Für Philipp Lahm fühlen sich die ersten 25 Spielminuten an, als trage er einen schweren Rucksack auf dem Rü-cken. Jeder Pass, den er sonst mit ver-bundenen Augen spielt, verlangt ihm höchste Konzentration ah. Erst mit der Zeit, nach einigen gewonnenen Zwei-kämpfen, kehrt die Sicherheit zurück. Lahm fällt wieder ein: Ich kann es doch!
Foto* R•inoldo Coddou 14. (2). Irnagolmogon
25. Mai 2013, Wembley, 22:02 Uhr Arjen Robben tankt sich links im Straf-raum durch, passt, und Mario Mandzu-kic schiebt den Ball im Fünfmeterraum ein. Der Kroate hat keinen Rucksack wie Lahm, er trägt nicht die Last der ver-meintlichen Loser-Generation. Er will nur diesen verdammten Henkelport. Und die-sen Willen trägt der 26-Jährige bei seinem Treffer wie eine Monstranz vor sich her.
25. Mai 2013, Wembley, 22:11 Uhr Schiedsrichter Nicola Rizzoli entscheidet auf Elfmeter, nachdem Dante im Straf-raum Marco Reus in die Magengrube getreten hat. Der Brasilianer hat schon Gelb gesehen, eigentlich müsste er für die Aktion vom Platz fliegen. Doch Riz-zoli lässt Gnade vor Recht ergehen. Der BVB hat für diese Situation vorab keinen Elfmeterschützen benannt. Es soll schie-ßen, wer sich danach fühlt. Marco Reus geht in solchen Moment oft voran, aber nun liegt er am Boden und hält sich den Rauch. Ilkay Gii ndogan schießt — 1:1.
25. Mai 2013, Wembley, 22:31 Uhr „Das darf nicht wahr sein", denkt Kevin Großkreutz. Arjen Robben hat sich nach Zuspiel von Ribery durch die Dortmun-der Abwehr gedribbelt und den Ball mit letzter Kraft am Borussia-Keeper vorbei-gedrückt. Ihm gelingt: ein. Eiertor. Dort-mund wirft alles nach vorne, doch es ist zu spät. Als Rizzoli abpfeift, sinkt Groß-kreutz wie die meisten Mitspieler auf den Rasen. Es darf nicht wahr sein — der Gedanke will ihm nicht mehr aus dem Kopf. In der Kabine, zurück im Hotel, immer wieder: Das darf nicht wahr sein!
25. Mai 2013, Wembley, 23:01 Uhr Als das Spiel zu Ende ist, liegen sich Schweinsteiger, Lahm und Sammer für einen sehr kurzen Moment in den Ar-men. Lahm sagt: „Matthias, ich habe noch nie so schwere Beine gehabt." Es ist ein stilles Einverständnis zwischen dem Sportvorstand und den von ihm er-wählten Führungsspielern. Ein lautloser Glückwunsch, den sich die drei ausspre-chen. Als Jupp Heynckes kurz darauf an Sammer vorbeigeht, geben sich die bei-den Männer kurz und intensiv die Hand. Näher kommen sie sich nicht mehr.
25.Mai 2013, Naturkundentuseum, 0:16 Uhr Nach dem Spiel ergreift Kapitän Sebas-tian Kehl das Wort. Wie baut man Men-schen auf, die vor wenigen Minuten ein Champions-League-Finale verloren ha-ben? Kehl blickt auf die Stationen der Spielzeit zurück: Amsterdam, Malaga, Madrid — niemand hatte den BVB auf
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der Rechnung. Beim Festbankett im Na-turkundemuseum hält Aki Watzke eine Rede. Er sagt: „Eins verspreche ich: Wir werden in der kommenden Saison eine Mannschaft haben, die mindestens so gut ist und die wieder angreift!' Hinter dem BVB-Boss steht in dem kirchen-ähnlichen Gewölbe das Skelett eines Dinosauriers. Markus Rejek und sein Team sind schon seit der Halbzeit im Museum. Als Robben trifft, dekorieren sie um, tauschen hastig die Getränkekar-ten aus. Sieger werden heute Nacht nicht in der Halle stehen. Für die Mannschaft. die sich bei solchen Anlässen oft unters Volk mischt, wird ein eigener Bereich in einem Erker der Halle eingerichtet. Kehl tritt vor und kündigt den Stargast des Abends an: Helene Fischer. Das Team hat sich die Sängerin für die Party ge-wünscht. Wie bei der Pokalnacht 2012 singt sie das Tote-Hosen-Cover „Tage wie diese'. In Berlin kam es noch gut an, diesmal ist es deplatziert. Als die patheti-sche Glücksballade erklingt, halten sich die ersten Profis die Pulle an den Hals.
25.Mai 2013, Grosvenor House, 0:23 Uhr Ein Jahr ist es her, dass Rummenigge mit Grabesmiene nachdem „Finale dahoam" eine Rede hielt, aus der in jeder Silbe der Schock ablesbar war, der den FCB ereilt bau. Diesmal ist der Vorstandschef rede-freudiger: „Ich habe das so genossen, wie die Mannschaft erst die Medaillen und dann den Pokal in Empfang genommen hat. Meine Frau hat eben zu mir gesagt, ich hätte ausgesehen, als ob ich meine eigenen Söhne umarmt hätte", so der Bayern-Boss. „Mir treibt's gerade etwas die Tränen in die Augen." Seine Anspra-che wird immer wieder von „Uli, Uli"- Sch lachtrufen unterbrochen, die Finanz-chef Jan Dreesen anstimmt. Alle 2000 geladenen Gästen im Raum, zu denen neben den Familien der Akteure auch Boris Becker oder Veronica Ferres zäh-len, wissen, dass Hoeneß schwere Zeiten bevorstehen. Im März haben Ermittler sein Haus am Tegernsee durchsucht. In Kürze wird die Staatsanwaltschaft An-klage erheben. Rummenigge beschließt seine Rede mit dem Appell an die Mannschaft und das Trainerteam: „Hermann Gerland hat gesagt: Feuer frei, die Kanonen werden heute freigegeben. Wir haben in sechs Tagen wieder ein Finale. Aber ich glau-be, mit 1,8 Promille haben wir trotzdem noch eine Chance.
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Chance vergeben: BVB-Coach Jürgen Klopp versucht nach Abpfiff ver-geblich, Ilkay Gündogan zu trösten.
1. Juni 2013, Olympiastadion Berlin Philipp Lahm stemmt den DFB-Pokal in den Nachthimmel von Berlin. Bayern gewinnt das erste Mal in der deutschen Fußballgeschichte ein Triple. Schon bald wird Pep Guardiola an der Säbener Straße anheuern. Er wird in seinen drei Jahren in München den Klub stets zur Meisterschaft führen und zwei Mal das Double holen. In seiner Detailversessen-heit wird er sich blendend mit Matthias Sammer verstehen. Ein Triple jedoch kann auch er nicht gewinnen. Der BVB hingegen wird bis in die Gegenwart nie mehr Meister werden, geschweige denn ein Königsklassen-Endspiel erreichen. Jürgen Klopp wird den Klub am Saison-ende 2014/15 auf eigenen Wunsch ver-lassen, weil er erkennen muss, dass er mit Borussia nicht mehr an die erfolg-reichen Zeiten anknüpfen kaan. Der Gewinn der Champions League erweist sich für die vermeintliche Loser-Gene-ration der Bayern jedoch als Erlösung. Der Kampf mit den inneren Dämonen nach der Niederlage im „Finale dahoam" und der Triumph von Wembley sorgen hei Lahm, Boateng, Müller, Neuer und Schweinsteiger für die Gewissheit, dass sie auch in großen Finals bestehen. Ähn-lich geht es Hummels und Götze auf Dortmunder Seite. Das innerdeutsche Finale 2013 wird unfreiwillig zur Ou-vertüre für den Gewinn des WM-Titels ein Jahr später in Rio de Janeiro. Und noch einen nachhaltigen Ef-fekt wird das Finale von Wembley haben, Rummenigges Beteuerungen zum Trotz. Seit 2013 gewinnt nur noch ein Verein Jahr für Jahr die Deutsche Meisterschaft: der FC Bayern München.